Monat: Juni 2005

Finnegans Wake

Die ersten Male, nachdem ich den Wake aufgeschlagen und zu lesen begonnen hatte, war ich spätestens nach eineinhalb Seiten eingeschlafen. Dann begann ich, mir Passagen laut vorzulesen und stellte überrascht fest, dass er musikalisch angelegt ist. Joyce hatte ein starkes Augenleiden, das rasch um sich griff und ihn Jahr für Jahr weniger sehen ließ. Letztlich fasse ich Finnegans Wake, bildhauerisch gesprochen, als Steinbruch auf. Joyce stellt darin etwas zur Verfügung. Der Wake erschloss sich mir in erheblichem Umfang, als ich begann, zahlreiche Teile daraus Buchstabe für Buchstabe zu stempeln und den Worten nachzuspüren. Seither benutze ich Finnegans Wake in diesem Sinn.

(Wenn man jedes Wort, im Fall des Wake meistens Kunstworte, in seinen kleinsten Teilen fasst, erscheint er in seinem ursprünglichen Zustand. Alle Bestandteile, die künstlich zusammengezogen wurden, fallen auseinander. Im Anschluss schälen sich Sätze heraus, die – bildlich gesprochen – mehreren Erzählsträngen gleichzeitig folgen.)

John Cage sagt: „Finnegans Wake ist das einzige Buch, das ich immer geliebt, aber nie gelesen habe.“

Während sich der Ulysses noch eindeutig übersetzen lässt, ist das beim Wake trotz zahlreicher Bemühungen und Verrenkungen nicht mehr möglich. Viele Worte sind künstlich und weisen, da sie aus mehreren Versatzstücken zusammengezogen sind, in unterschiedliche Richtungen. Tatsächlich gibt es kein vergleichbares Werk. Vermutlich nimmt es moderne Informationstheorien vorweg. Zumindest ist es kein Buch, das als Ziel hat, den Leser auf herkömmliche Weise über etwas zu unterrichten oder ihn zu unterhalten. Viele sehen das letzte Kapitel des Ulysses, in dem der (vermeintliche) Bewusstseinsstrom von Molly Bloom aufgezeichnet ist, in den Wake münden. Das halte ich für viel zu kurz gegriffen. Finnegans Wake geht weit darüber hinaus. Die riesigen Sprünge zwischen den einzelnen Büchern von Joyce sind derart revolutionär, dass ich ihn lange Zeit nicht einmal für einen richtigen Schriftsteller hielt.

Ich stieß schnell auf die literaturwissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel Vielfacher Schriftsinn von Klaus Reichert. Darin wird analysiert, wie Joyce die Satzstrukturen bis hin zum einzelnen Wort aufbricht. Die Rechnungen, wieviele Sprachen Eingang fanden, fallen unterschiedlich aus. Manche sagen, es seien achtzig bis hundert. Joyce hat 16 Jahre gebraucht, um es zu schreiben, von 1923 bis 1939. Er lebte in Paris, verlegte aber wegen der Besetzung von Paris durch die deutsche Wehrmacht im Jahr 1940 seinen Wohnsitz und den seiner Familie in die Schweiz. Er starb Anfang des Jahres 1941 in Zürich.

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