Susan Sontag

Das zweite große Thema verfolgte ich mit Susan Sontag, die vielen der Personen, die in der Kartei zu Wort kommen, allen voran John Cage, persönlich begegnet war und dessen Arbeit sie verehrte. Sie hatte ein kurzes Verhältnis mit Jasper Johns, sie war bekannt mit Rauschenberg und Buckminster Fuller, wahrscheinlich mit Merce Cunningham und wusste von einigen Vertretern der New Yorker Schule, unter anderem von Morton Feldman.

In die Kartei schleuste ich ihre nach Jahren geordneten oftmals kurzen Einsichten oder Bemerkungen über Kunst. Sie sind im zweiten Tagebuch von den Jahren 1964 bis 1980 gesammelt. (Das dritte ist deutsch nicht erschienen.) Neuerdings, wenn die eigene Internetadresse in einen Verteiler aufgenommen wird, spricht man kultiviert davon, dass sie eingepflegt wurde. Susan Sontag wurde pfleglich in die Kartei aufgenommen.

Ihr zweites Tagebuch trägt in der deutschen Übersetzung den Titel: „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ Mir gefiel dieser schlagende Satz. Er kommt der Haltung von Susan Sontag nahe und findet sich im Buch. Ich erkenne darin ihre Arbeitsweise. Im Englischen lautet der Titel des Buchs, den allerdings ihr Sohn postum verwendet hat: As consciousness is harnessed to flesh. Sehr frei könnte man übersetzen, dass das Bewusstsein angeschirrt und ins Fleischliche transportiert wird. Allerdings ist Sprache ein Medium, sie dient nicht dem Bewusstsein, sondern folgt eigenen Gesetzen. Wie die Malerei, wie die Bildhauerei, wie die Musik und so weiter. Für einen Schriftsteller ist dieses Arbeitsprinzip unmöglich. (Als Bildhauer, der zeichnet, ist mir jedes Blatt kostbar.)

Hingegen ist Susan Sontag so etwas wie die ideale Betrachterin alles Künstlerischen, der „ideale Leser mit einer idealen Krankheit“, von der Joyce schrieb und ironisch Bezug nahm auf die Behauptung von Riviere, der magische Schriftsteller begebe sich in Kommunion mit dem idealen Leser. Es gibt natürlich Belege für Sontags eigenes Schreiben. Doch hatte ich immer das Gefühl, sie wäre gern Schriftstellerin, es ist ein Traum, den sie sich im Leben gern erfüllt hätte. Und auch wenn ihre Notizen dazu präzise sind, kann ich die Versuche sowie die tatsächlich veröffentlichen poetischen Texte (beispielsweise die vier vorliegenden Romane) bestenfalls als dürftig bezeichnen. Ihre Essays hingegen sind brillant.

(Damit will ich nicht sagen: „Wären diese Bücher nur nie veröffentlicht worden.“ Mir geht es um die Ikone Susan Sontag. Und die Romane gehören zweifellos ins Bild.)

(Das erste Tagebuch war künstlerisch nicht derart ergiebig, da es mehr ihrer Selbstfindung diente.)

Wir wissen, dass Susan Sontag jeden Abend unterwegs war. Sie ging auf Eröffnungen, besuchte Konzerte, besah sich Ausstellungen und Happenings. Was im Kunstbetrieb los war, zog nicht an ihr vorbei, und sie machte sich zu einer Figur, an der man nicht vorbei kam.

Offenbar galt ihr besonderes Interesse der Fotografie. Doch ihre Essays darüber, die 1980 erschienen und als bedeutend gelten, kommen mir teilweise überholt vor. Manchmal musste ich mich in die Siebziger und Achtziger Jahre zurückversetzen, in die gesamtgesellschaftliche Umtriebigkeit, die runderneuerten Kriegsschauplätze, die nie dagewesenen Krankheiten und die hinzu kommenden künstlerischen Ausdrucksformen, um nachvollziehen zu können, was ihr Anliegen gewesen war. Inzwischen kleben an der Rückseite jedes Smartphones bis zu fünf Objektive, die Fotos erstellen und filmen, und alles wird in Clouds gespeichert. Womöglich ist nicht einmal der Gestus (etwas zwischen sich und die Welt bringen) gleich geblieben, denn wozu sonst liefen die Leute mit Stangen, an denen die Smartphones vom Körper weg gehalten werden können, durch die sehenswerten Orte? Der Ausdruck ist: Ich stand vor dieser Kulisse. (Aber ich sage das nicht als Fotograf oder als Essayist.)

Das Abbilden ist heute derart inflationär, dass das einzelne Foto kaum noch Beachtung finden kann.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich neue Parameter für die künstlerische Fotografie. (Das vermute ich.) Diese Entwicklung und was sie für das einzelne Bild bedeutet, konnte niemand vorhersehen und manche von Susan Sontags Sichten sind einfach von der Zeit rechts überholt worden.

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